Nachdem Maxim und Selene das Gasthaus verlassen, blieb Edmond zunächst für eine Weile nachdenklich zurück. In der Tat, an diesem Morgen schien es kein Opfer der Vampire oder Werwölfe gegeben zu haben, und doch, es änderte nichts. Marina war tot und noch immer konnten die Stadtbewohner keinen der Mörder Thorbens und Sophias überführen und hinrichten. Sie liefen noch immer frei durch die Straßen Düsterburgs, genauso wie die Person, die de Tod der jungen Sängerin zu verantworten hatte. Das Ergebnis ihrer Obduktion würde sich jedoch wohl noch um einen vollen Tag hinauszögern, und so blieb dem Grafen keine andere Wahl, als sich derweil anderen Angelegenheiten zu widmen und abzuwarten, was er wohl morgen erfahren würde.
Wie zu erwarten war, nahm auch Edmond an der Beerdigung des Ehepaars Caspar und Sophia von Busch teil. Er verspürte keinen großen Appetit während des Leichenschmaus und auf die anderen Beteiligten wirkte er geradezu geistesabwesend. Trauerveranstaltungen waren ihm seit je her unangenehm, nicht zuletzt, weil es ihm im Gegensatz zu vielen anderen Gästen äußerst schwer fiel, derartige Gefühle zum Ausdruck zu bringen und man ihn beinahe für kaltherzig hätte einschätzen können, wie er dort so stand und ohne eine Träne zu vergießen den Fortgang verfolgte. Andächtig lauschte er den Worten des Priesters und die speziell für dieses Ereignis komponierte Kirchenmusik fügte sich perfekt in den Rahmen der Rede. Ihm selbst war nicht nach reden zumute und so schwieg er die meiste Zeit über und konzentrierte sich darauf, sich die guten Erinnerungen wieder hervorzurufen. Dabei überhörte Edmond gekonnt die böswilligen Nachrufe, wohlwissend, dass ganz gleich, ob Caspar von Busch nun kein normaler Mensch gewesen war oder eine besondere Vorliebe für rosa Damenwäsche hatte, sich gewiss nicht das selbe Schicksal für seine Ehefrau gewünscht hatte, wo er sie doch bis zum Schluss vergötterte. Auch wenn nicht viele der Vertrauenspersonen unter den Anwesenden dabei waren, so war diese Beerdigung nicht weniger stilvoll und angemessen für die Toten gewesen, welche nunmehr in der prunkvoll eingerichteten Familiengruft ihre letzte Ruhe finden sollten...
Nachdem sich die Trauergemeinschaft langsam wieder aufgelöst und Edmond einige Worte mit nahe stehenden Angehörigen gewechselt hatte, begab er sich wieder ins Zentrum der Stadt zum Rathaus, wo er sich über einige wichtige Neuigkeiten informieren wollte. An der Fassade und auf der Dachkonstruktion sah man fleißige Handwerker bei der Arbeit sehen, wie sie das alte Gemäuer langsam begannen, endlich zu restaurieren und den alten Glanz wiederherzustellen, den das Gebäude einst einmal versprüht hatte. Auf dem Weg zum Büro hörte man die Stadtbeamten über den Selbstmord Wilhelm Wennings flüstern und Edmond musste dadurch schmerzlich feststellen, dass damit noch ein vertrauenswürdiger Mensch von seiner Seite entschwunden war. Was ihn wohl dazu getrieben hatte? Oder hatte er vielleicht mehr gewusst, als er zu Lebzeiten zugegeben hatte? Zweifellos muss es auch für ihn schockierend gewesen sein, als vor zwei Tagen ausgerechnet der Bürgermeister angeklagt und infolge dessen verstorben war, und dass, obwohl doch gerade Wenning sich stets so gewissenhaft um den Ablauf der Wahlen gekümmert hatte...
In seinem Büro angekommen, machte sich Edmond sogleich daran, sämtliche Briefe zu lesen, die sich auf seinem Schreibtisch angehäuft hatten. Der erste Brief enthielt eine Mitteilung vom Hauptmann der Stadtwache, Roman von Ebershof, welcher mit einigen anderen Männern die Räumlichkeiten von Sven Frankenfels, dem ansässigen Barbier, durchsucht hatten. Es wurde vermutet, dass sich insbesondere in seinem Keller Hinweise auf einige vergangene Morde finden ließen, jedoch blieb die Aktion erfolglos und man musste den Barbier wieder freilassen. Dennoch würde man diesen Gesellen in nächster Zeit im Auge behalten müssen, gewiss war das noch nicht das Ende der Ermittlungen.
Eine weitere Mitteilung wies den Bürgermeister darauf hin, dass es eine Lücke in der Stadtmauer gab, durch die ein gewisser Jäger sich Zugang in die Stadt verschafft hatte. Ab sofort würde man auch dort Wachen abstellen lassen, bis man das Loch in der Stadtmauer beseitigt hatte. Ob sich auch die Vampire und Werwölfe dadurch Zugang zur Stadt verschafft hatten?
Wie erwartet sollte die Obduktion von Marinas Leichnam noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, wie der zuständige Arzt in einem kurzen Brief mitteilte. Jedenfalls schien sie kein Opfer fremder Gewalteinwirkung gewesen zu sein und man vermutete daher, dass sie womöglich vergiftet worden war. Ausgerechnet! Dazu konnte nur ein echter Mensch imstande gewesen sein, doch wer hegte solch einen Hass gegenüber der jungen Sängerin, dass er sie heimtückisch ermordete? Das ergab keinen Sinn und Edmond fehlte vorerst jedweder Ansatz,den er hätte weiterverfolgen können.
Doch, immerhin, zumindest schienen die Handelsgeschäfte wieder ihren normalen Gang zu nehmen und offenbar gab es seit dem heutigen Tage auch wieder echten Düsterburger Schinken zu erwerben, wenn auch nur in kleinen Mengen, deren Preis dafür umso höher war. Zumindest eine Sache, um die man sich nun keine Gedanken mehr zu machen brauchte, auch wenn Edmond noch immer keinen wirklichen Appetit auf irgendetwas zu haben schien.
Zügig verfasste er eine Mitteilung an seinen guten Lagerverwalter Fritz, welcher sich inzwischen nicht mehr nur um das Comptoir und die Handelsschiffe kümmern musste, sondern auch ein Auge auf den Nachlass derer von Busch hatte, so gut es eben ging. Wenn all dies vorüber war, würde er sicherlich dringend ein wenig Urlaub nötig haben, so wir eigentlich alle Bewohner Düsterburgs. Dabei musste der junge Graf feststellen, dass es einige Personen unter ihnen gab, die sich bisher geschickt jeglicher Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit entzogen hatten und die auch er gerne einmal zu Gesicht bekommen würde, auch wenn er auch so Dank seiner Gehilfen trotzdem stets Bestens darüber informiert war, welchem Treiben insbesondere die so genannten Vertrauenspersonen Tag für Tag nachgingen. Doch warum sollte man auch nicht an den Erfolg des Vortags anknüpfen und wieder eine ergiebige Versammlung einberufen? Schnell machte sich Edmond daran, einen entsprechende Einladung in den Umlauf zu bringen:
Bürgerinnen und Bürger Düsterburgs,
nach der erfolgreichen Hinrichtung einer weiteren Kreatur der Nacht am vergangenen Abend
lade ich hiermit erneut sämtliche Vertrauenspersonen dazu ein, am heutigen Abend einer weiteren
Versammlung in meinem bescheidenen Anwesen beizuwohnen, um über die jüngsten Ereignisse zu
diskutieren und hoffentlich einen weiteren Mörder in unseren Reihen zu entlarven und hinzurichten.
Für Speis und Trank ist in ausreichender Menge gesorgt. Inklusive Düsterburger Schinken!
Edmond Dantès
Der Bürgermeister