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Der Weg zum Haupthaus des Palastes blieb ein kurzer, verstrich noch schneller ob Amelias Kopf in den Wolken und Augen auf den Fassaden, bevor dieser der säulengetragene Vorbau des Haupttraktes abschnitt. Nur für einige Herzschläge kam es ihr so vor, als bliese der Wind stärker in die Kolonnade. Dann jedoch schob ihr Wegführer, Hrundal, wie ihn sein Kamerad nannte, die schweren Portalflügel aus massivem bronzeverzierten Holz auf und gebot ihnen, einzutreten. Wärmere, aber keinesfalls sonderlich warme Luft schlug ihr unvermittelt entgegen, derweil sie und ihr Ohm sich ins Innere begaben und letztlich kurz stehenblieben, um auf den Rest zu warten.
Zugegeben, der Anblick der weitläufigen Halle mit Kolonnaden und Emporen zu allen Seiten, gearbeitet aus deutlich kunstvoller behauenem Stein in hellem und dunklem Grau, mancherorten sogar düsterem Anthrazit, verschlug der Bretonin schließlich doch einen Moment den Atem. Trübes Licht funkelte durch die Bogenfenster an der Basis der Domkuppel und zerstreute sich im schummrig von Leuchtern erhellten Empfangsbereich. So manche geschäftige Bedienstete des Hauses und weitere Wachen in den deutlich schwereren Rüstungen, wie sie auch ihr Wegführer trug, die mit den Rücken zu einigen der eckigen Säulen standen, bevölkerten diesen Teil des Palastes. Während die Gerüsteten ihre Posen nicht merklich veränderten, glichen die Diener dieses offenkundige Desinteresse aus und warfen so manchen neugierigen Blick zu den eintretenden Bretonen hinüber, ehe sie hastig zu den Seiten des Saals zwischen Pflanzkübeln mit blässlichem Grün und den Pfeilern verschwanden.
»Es ist üblich, dass Besucher des Hauses den Jarl persönlich über ihre Anwesenheit in ihren Hallen unterrichten, auch wenn sie Gäste anderer Bewohner des Palastes sind«, meldete sich unvermittelt Hrundal zu Wort, seine Stimme rauchig und spröde, einer rostigen, blätternden Eisenstange nicht unähnlich. Erstmals nahm Amelia ihn richtig wahr und betrachtete seine markanten, kantigen Züge, die sich nicht vollends unter seinem dichten, brustbeinlangen Vollbart zu verstecken vermochten. Stahlblaue Augen leuchteten unter seiner starken Stirn und buschigen Brauen hervor. Ein Nord, wie er im Buche stand – Wildes Schimmern in den Augen, kraftvoll. Aufregend.
»Wenn es die Gepflogenheiten des Hauses sind, so werden wir uns ihnen selbstverständlich beugen«, willigte Natalios schließlich ein, als sie alle das trockene Innere des Palastes betreten hatten. Neuerliches Herzklopfen erfasste Lia in der Gewissheit, einer echten Königin gegenüberzutreten. Nach all den kleinen und größeren Fürsten, Herzogen und Burgherren in Hochfels, die ihre Familie kannte, so besaß diese Begegnung eindeutig Besonderheit. Dennoch verspürte sie dieselbe, leichte Unzufriedenheit mit dieser Art des Empfangs, wie sie auch ihr Ohm zu empfinden schien, immerhin wollten sie sich nicht allzu groß bekannt machen. Mehr noch als das einfache Volk tratschte der Adel unter sich – und kam dabei noch weit mehr herum, als ersteres. Von allen Gerüchteverbreitern mochten Blaublütige die Schlimmsten sein – und damit kannte sich Amelia nicht nur bestens aus, sondern musste zu ihrer Schande gestehen, oft genug dazuzugehören. Adelsdamen unter sich. Nichts zeterte mehr.
Unterdessen die junge Bretonin ihren Gedanken nachhing, verpasste sie beinahe den kunstvollen Aufgang am gegenüberliegenden Ende der Halle, ignorierte ihn fast völlig, obwohl sie eine der geschwungenen Treppen nach oben stiegen. Schwere Schritte voraus und folgend, blieben ihr Onkel und sie doch weiterhin von ihren Wächtern eingefasst.
So imposant der Empfangssaal hinter ihnen sein mochte, so schlicht bot sich der eigentliche Thronraum an, mehr eine zu dunkel geratene Nische mit Bannern und einigen Holzbänken. Wenig Licht drang durch die zu klein geratenen Fenster an der rechten Seite und nicht einmal ein großer Teppich, so wie in der Eingangshalle, sorgte für etwas mehr Gemütlichkeit. Amelia fröstelte es unvermittelt.
Darüber hinaus fielen die Bretonen im Vergleich mit den anderen Anwesenden hier nicht nur durch ihre feinere, filigranere Erscheinung und kleinere Größe auf. Wenn sich Amelia die Kleidung der Nordadeligen betrachtete, so mochten diese bisweilen in Hochfels als gewöhnlich durchgehen, wenn sie einmal von den schweren, gut gearbeiteten Fellen absah, die den meisten um die Schultern lagen. Schwere Stoffe, oftmals Samt, überbordet mit schwerem Goldschmuck, gröberen Untergewändern und farblichen Kombinationen, bei denen Amelia die Augen bluten wollten. Ihre Hoffnungen, in diesem Kleiderladen nahe des Haupttores der Stadt den einen oder anderen Septim wohl investieren zu können, welkten nur einen Lidschlag später.
Dennoch blieb ihr nur ein flüchtiger Moment, die Umgebung aufzunehmen, bevor Hrundal ihre Gruppe näher zu einem Podest lotste, auf welchem sich ein deutlich kunstfertiger geschnitzter, hoher Lehnstuhl befand. Eine schmale, älter erscheinende Nordfrau saß auf dem Thron, trug das rot schimmernde, lange Haar mit einem goldenen Stirnband nach hinten gelegt und entblößte damit ihr spitzes Gesicht. Graue Augen, die auf Lia einen traurigen Eindruck machten, musterten die Neuankömmlinge, welche das Gerede zwischen den Anwesenden zum Verstummen gebracht hatten.
Langsamen Schrittes näherten sich letztlich lediglich die beiden bretonischen Adeligen dem Thron. Ihre Wachen und Hrundal hielten sich indes im Hintergrund und nahe der Brüstung oberhalb der gewundenen Treppen ins Erdgeschoss. »Gäste aus Hochfels sind in diesen Hallen selten«, eröffnete Elisif. Was genau Amelia erwartet hatte, wusste sie nicht, aber keinesfalls eine solch tonlose Stimme, auch wenn sie wohl unfraglich zum blassen Jarl passte. Natalios und seine Nichte blieben stehen, als die Regentin sich erhob. Derweil sich ihr Ohm tief verbeugte, senkte Amelia das Kinn und den Blick, um einen makellosen Knicks zu vollführen, auf den ihre Mutter zweifellos stolz gewesen wäre, lange genug wie es gedauert hatte, ihrer Tochter diesen beizubringen.
»Sybille unterrichtete mich, dass sie Gäste aus dem Westen erwartete«, fuhr der Jarl fort und trat auf die mittlere Stufe des Podestes hinab. »Ich gehe recht in der Annahme, dass Ihr diese seid?«
Auf diese Weise angesprochen, richtete sich Nat auf und Amelia folgte seinem Beispiel. »Sehr wohl, Jarl. Natalios Val Nurinia.« Während er sprach und eine neuerliche Verbeugung andeute, meinte die junge Bretonin an seiner Seite das leichte Zucken seiner Kiefermuskeln zu erkennen. »Und Amelia Val Nevenas, meine Nichte«, stellte er im Anschluss Amelia vor, die ebenfalls einen erneuten Knicks andeutete.
»Sybille deutete an, Ihr wärt für persönliche Angelegenheiten hier?« Elisif blieb auf der mittleren Stufe stehen und ignorierte die neugierigen Blicke der umstehenden Adeligen und Palastbewohner ebenso wie ihre neuen Gäste.
»Recht so. Als Hexenmeister der Magiergilde in Urvanus bin ich für magische Studien nach Himmelsrand gekommen. Amelia ist dabei nicht nur meine Nichte, sondern auch Schülerin«, erklärte Natalios und musste dabei nicht lügen, auch wenn es nicht der ganzen Wahrheit entsprach.
»Nun, dann seid Ihr bei Sybille in den richtigen Händen.« Größere Zufriedenheit mit der Antwort des Bretonen zeichnete sich auf Elisifs scharfen Gesichtszügen und um die blassen Mundwinkel ab. »Unglücklicherweise«, fuhr sie gedehnt fort, »ist Sybille gerade noch verhindert und treibt wohl irgendwo im Palast ihr Unwesen.« Sie hob den Blick an ihren Gästen vorbei. »Du, Wächter, Dein Name?«
»Hrundal, Jarl.« Ergebenheit weichte die rauche Stimme des Nord auf und Amelia meinte seine Verbeugung am knirschen des Wamses und der stählernen Panzerplatten zu hören.
»Suche Sybille und sage ihr, dass ihre Gäste eingetroffen sind.«
»Gewiss, Jarl. Sofort, Jarl.«
Gerade wollte er sich bereits mit schweren, rasselnden Schritten entfernen, da hielt ihn die Regentin nochmals auf. »Fange im Verließ an.« Darauf folgten schnell frequente Schritte, die irgendwo in der Weite der Empfangshalle verklungen und letztlich ganz verschwanden. »Erikur«, wandte sich Elisif im Anschluss von den Bretonen ab und kehrte zu ihrem Thron zurück, »sei so gut und zeige unseren Besuchern den Gästetrakt. Die Zimmer sind hergerichtet.« Damit setzte sich der Jarl und betrachtete erneut Amelia und ihren Ohm. »Bei Speis und Trank zum heutigen Abend wäre ich sehr an Eurer Verbindung zu Sybille und Euren magischen Studien interessiert, Natalios.«
»Gewiss, Jarl. Mit Vergnügen«, entgegnete der Angesprochene und deutete eine erneute Verbeugung an.
»Folgt mir«, sprach unvermittelt ein kräftiger, aber keinesfalls muskulöser Nord von der Seite. Sein schwerer Mantel in goldbesticktem Himmelblau wollte so gar nicht mit dem giftigen Grün seines Untergewands harmonieren und biss sich obendrein mit den ins Rosa abgleitenden Quarzkristallen, die im klobigen Goldschmuck um seinen Hals eingefasst auf seiner Brust lagen. Nicht, dass die Kristalle zur Farbe des Metalls gepasst hätten. Lia erschauderte.
Mühsam konzentrierte sie sich auf sein langes Gesicht mit der riesigen Knollnase. Engstirnig geschnitten, fasste kinnlanges, blondes Haar, das in Zöpfen über den Schläfen lag, das Antlitz ein und vertuschte somit die wahrhaft hohe Stirn zumindest teilweise. »Erikur, Thane von Jarl Elisif«, stellte er sich nochmals selbst vor, derweil er ihnen gebot, den Nordflügel des Palastes mit ihm anzusteuern. »Erfreut Eure Bekanntschaft zu machen.«
»Gleichsam.« Natalios schüttelte im Gehen seine Hand. Gleichzeitig kam hinter ihnen wieder das schwere, wenn auch gedämpfte Scheppern ihrer eigenen Wächter auf, und kündete von ihrem schweigsamen Folgen.
»Thane?«, hakte Lia in diesem Moment ein. Der Begriff klang fremdartig und unbekannt, entsprechend interessiert sah sie den Nord von der Seite an, indessen er mit ihnen über die Empore des Eingangssaals in den Nordflügel verschwand.
»Ein ritueller Titel für jene, die in der Gunst des Jarls und der Menschen seines Fürstentums stehen. Besondere Leistungen und dergleichen.«
»Also eine Art Ritter?«
Erikur schien kurz zu überlegen, dann jedoch nickte er in Laufrichtung. »Ja, vermutlich. Obwohl es wirklich mehr eine Volkssache ist. Ein Thane muss sich im Dienste des Volkes ebenso verdient machen wie im Dienste seines oder ihres Jarls, bevor er den Titel verliehen bekommt. Für Ritter gilt dies wohl nicht in der gleichen Weise«, erwiderte er dann, folgte einem kurzen, mit schmalem Teppichband ausgelegten Flur bis sich dieser Teile. »Links liegen die Gemächer des Jarls. Der Gästetrakt befindet sich im zweiten Stockwerk, wenn Ihr mir also weiter folgen würdet?«
Nachdenklich ob Erikurs Antwort schenkte sie seinen Ausführungen zum Lageplan des Palastes nur bedingt Aufmerksamkeit, aber sah wenigstens den langen, von zahllosen Leuchtern erhellten Korridor hinab, bevor sie den schweren Schritten des Nords die schmalen Stufen hinauf folgte.
»Befinden sich viele Gäste im Palast?«, wechselte Amelia letztlich das Thema. Dass ihr die Gesellschaft des Jarls im Thronsaal ziemlich klein erschien, sprach sie nicht laut aus. Es wäre unangebracht gewesen und vermutlich fiel der Grund für die geringe Größe in eine ähnliche Kategorie der Erklärung wie das ruppige Verhalten der Wachen am Stadttor.
Ihre Vermutung sollte sich bestätigen. »Ich bin sicher, dass Ihr von der gegenwärtigen Lage in Himmelsrand gehört habt. Besucher am Hof sind selten geworden. Darüber hinaus verbringen die Thane ihre Tage zwar durchaus im Palast, leben jedoch nicht hier. Der Gästeflügel ist deshalb völlig frei.« Just in diesem Moment erreichten sie das obere Ende der Stiege und traten auf einen weiteren Flur hinaus, der jenem ein Stockwerk tiefer zum Verwechseln ähnelte. Graues Mauerwerk, vereinzelte rote Banner und Wandteppiche, schummriger Kerzenschein. Einigermaßen wohnlich, aber keinesfalls warm.
»Hier, dies ist das größte Schlafgemach und der Dame sicherlich besonders gefällig«, fuhr Erikur schließlich fort und lief eiliger zu einer nahen Tür hinüber, um sie für Amelia zu öffnen. Mit einem dankenden Nicken und schmalen Lächeln trat sie unter dem beinahe aufdringlichen Blick des Thane durch die schwere Pforte in ein hergerichtetes Gemach, das zwar kleiner als jenes in der Burg ihrer Familie war, aber zumindest in seiner Einrichtung keine Abstriche bot. Ein großes, von Schleiern verhangenes Doppelbett, mehr als genug Schränke und Kommoden, um all ihre mitgeführten Kleider und Sachen zu verstauen und sogar eine Feuerstelle ebenso wie ein Raumteiler, hinter welchem sie nach kurzem Umherlaufen einen Badezuber entdeckte. Die Fenster wiesen zwar nach Norden, weswegen nie die Sonne hineinscheinen würde, aber die Aussicht, die sich der jungen Adeligen bot, mochte diesen Umstand wohl mehr als ausgleichen.
So glitten ihre Augen einige lange Momente über den Mund der Bucht und die nördlichen Küstenlinien nach Westen und Osten hin bis sie sich ebenso im tristen Grau verloren wie das Schwarz des Geistermeers. Erst danach beachtete Amelia erneut den Raum und nahm die weichen Felle auf dem Dielenboden wohlwollend zur Kenntnis. Ebenso wie Rasvan, der sich prompt auf einem Bärenpelz zum Fußende des geräumigen Doppelbetts niederließ.
»Diese Tür dort«, deutete der Thane auf eine schmale, unauffällige Pforte am Westende des Raumes, »führt in eine Zwischenkammer. Ideal für Eure Magd, wenn Ihr eine mit Euch brachtet. Sie öffnet sich auch in den angrenzenden Raum, welchen ich Euch anraten möchte, Natalios.«
»Wird Raum für unsere Wachen hier oben sein?«, hakte ihr Onkel daraufhin nach. Ihr Hausführer hielt kurz an der Türschwelle inne, sah aus, als ob er gerade schon weitergehen wollte, dann wog er das Haupt unschlüssig von einer zur anderen Seite. »Das solltet Ihr mit Sybille besser direkt besprechen. Da Ihr ihre Gäste seid, wird sie sich um solcherlei Fragen kümmern und ich weiß nichts darüber, ob bereits Absprachen geführt worden sind.«
»Dann werden wir uns gedulden«, bestätigte Nat und folgte Erikur zurück auf den Korridor, wo sie aus Amelias Sichtfeld verschwanden. Diese blieb in ihrem Gemacht und kniete sich neben den Mischling aus Eiswolf und Schäferhund, der sich wonnig und ruhig atmend auf dem Fell ausbreitete und die langen, kräftigen Beine von sich streckte. Festen Boden unter den Füßen zu haben, musste unzweifelhaft auch er genießen.
»Du scheinst Dich ja richtig wohl zu fühlen«, flüsterte sie dem Halbwolf zu und zerzauste ihm mit ruppigen, aber liebevollen Bewegungen der Hände das Haar am massigen Hals. Anstatt wirklich darauf einzugehen gähnte das Tier bloß und glotzte sie lediglich aus seinen großen, goldbraun leuchtenden Augen heraus an. Unbekümmert streichelte sie ihn zwischen den Ohren, bis er den langen Lappen aus dem Maul hängen ließ und das wuchtige Haupt niedersank. »Ja ja, Faulpelz. Steh auf«, wies Amelia den Vierbeiner an und beobachtete zufrieden, wie er die schläfrig immer wieder zufallenden Lider hochriss und sich anschickte, aufzustehen. »Gut so.« Wehleidig wimmernd wandte sich ihr der Hund zu. Doch anstatt sich weiter kraulen zu lassen und sich gleichzeitig darüber zu beschweren, nicht liegen bleiben zu dürfen, drückte er sich mit den Vorderpfoten ab und legte die schweren Tatzen auf Amelias Schultern.
Überrumpelt entwand sich ein helles Quieken ihrer Kehle, bevor sie nach hinten stürzte und sich einige noch immer vom geschmolzenen Schnee nasse Stofffalten gegen ihren Leib drückten. »Nicht so ungestüm«, lachte sie und schob sich mit verrutschten Gewändern und dem abgewickelten Zopf zwischen ihren Gliedern unter dem hochbeinigen Halbwolf heraus.
Schwere, eilig klingende Schritte näherten sich auf dem Flur und hielten vor ihrer Tür inne. »Alles in-«, hob Lida an und die Adelige warf einen schnellen Blick zu ihr hinüber, wie sie an der Tür unvermittelt innehielt und ihre vom schnellen Lauf verwehte, brustlange Goldmähne richtete. »Oh.«
»Schon gut, Lida. Der Herr wünschte deutlich zu machen, dass ihm nicht an Spielen gelegen ist«, erklärte die Bretonin und begann damit, aufzustehen. Bevor Erikur und ihr Onkel zurückkehren konnten, richtete sie ihre Gewänder und den Überwurf neu und löste den verhedderten Schal. Schwer wog der Zopf über ihrer Schulter, richtete sie das silberne Netz an ihrem schlanken Hals gerade in dem Moment, als der Nord und ihr Verwandter zurückkehrten.
»Ich bin sicher, dass Ihr Euren Aufenthalt im Blauen Palast genießen werdet«, verkündete der Thane gerade und hielt hinter Lida auf dem Korridor inne, warf einen Blick in Richtung der jungen Bretonin, die ihren mit winzigen Saphiren bestückten Halsschmuck gerade fertig justiert hatte und sich anschickte, die ungeschützte, helle Haut und das Metall vor der kühlen Luft in den noch ungeheizten Zimmern mit dem seidenen Schal zu schützen. »Und ich bin sicher, dass wir Eure Gegenwart ebenso genussvoll aufnehmen werden.« Kurz hielt er seine felsengrauen Augen auf sie gerichtet und rang ihr ein etwas widerwilliges, dankendes Nicken bei leichter, unwillkürlicher Röte in den Wangen ob des gezwungenen Kompliments ab. Auf der einen Seite schmeichelte es ihr, ohne Frage, andererseits blieb Erikur nicht ihre erste Wahl unter jenen, von denen sie solch schöne Worte hören würde.
»Wärt Ihr so frei, diesen beiden Herren hier Geleit zu organisieren, damit sie einige unserer Sachen bereits von unserem Schiff holen können?« Erst im Näherkommen erkannte Amelia, dass Natalios auf Bedrich und Franos zeigte. Die kräftigen Zwillinge mit den fast schwarzen, fingerlangen Haaren und gleichfarbigen Murmeln von Augen ließen in Synchronie die Kiefermuskeln unter den buschigen Backenbärten spielen.
»Natürlich. Wenn Ihr wünscht, steht Euch derweil dieser Flügel und der Rest des nördlichen Palastes zur Verfügung. So Ihr wünscht, stellt Euch die Küche sicherlich etwas für die nachmittägliche Stärkung zusammen.« Noch wartete der Thane auf eine Reaktion der Bretonen, aber schien sich allmählich auf den Weg machen zu wollen.
»Meinen Dank. Wir werden uns sicherlich zurechtfinden«, erwiderte Natalios und nickte Erikur dabei anerkennend zu. Der erwiderte die Geste und wollte sich bereits zum Gehen wenden. Aber Amelia hielt ihn noch einmal auf.
»Ihr sagtet, der Nordflügel?«
»Ah, richtig. Eine gut gemeinte Warnung«, antwortete Erikur und setzte ein wenig erfreutes Lächeln auf. »Der Pelagius-Flügel ist schon seit Längerem für alle Besucher und Bewohner des Palastes gleichermaßen geschlossen. Ausnahmslos.«
»Ich denke, dass wir unseren Weg dorthin so ganz ohne Hilfe ohnehin nicht finden würden«, willigte ihr Ohm ein und warf nur einen kurzen Seitenblick auf Amelia, die unbemerkt von ihrem Hausführer mit den Schultern zuckte.
»Abermals: Eine Freude«, verneigte sich Erikur und verschwand anschließend in Begleitung der zwar kleineren, aber kraftvolleren Zwillinge. Lia und ihr Ohm sahen ihnen nach, bis sie die Stufen der Treppe hinab verschwanden.
»Also warten wir?«, hakte die junge Bretonin nach.
»Kolja«, wandte sich Natalios ohne auf ihre Frage einzugehen an den Hauptmann, der einige Schritte in Richtung des Zimmers ihres Verwandten auf dem Korridor die Stellung hielt.
»Herr?« Der muskelstarke Kämpfer strich sich eine lockere Strähne aus der Stirn und richtete im Anschluss seinen Mantel wieder so aus, dass er das Wappen auf seiner Brust verdeckte.
»Offenkundig ist es nicht die beste Idee gewesen, sich am Hof einzuquartieren, wenn es darum geht, unsere Anwesenheit möglichst verdeckt zu halten. Aber…« Er warf einen Blick auf seine Nichte. »… in diesen Zeiten ist das Bewusstsein des Jarls über unsere Anwesenheit sicherlich nützlicher und in jedem Falle sittlich wie schicklich. Deswegen erwarte ich, dass unsere Späher aufbrechen, sobald wir mit Sybille gesprochen haben.«
»Wie Ihr es wünscht.« Koljas tiefe Stimme klang in den engen Verhältnissen des Flurs wie eine Lawine an fernen Berghängen und jagte Amelia Gänsehaut auf die Arme.
»Sollten wir Jarl Elisif über unsere anderen Aufgaben hier unterrichten?«, wandte sie junge Adelige ein und warf ihrem Onkel einen fragenden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Unbedingt. Aber nicht im Beisein des gesamten Hofstaates.«
Daraufhin nickte sie lediglich. Ihnen fehlten so manche Güter für längere Reisen hier, die für über zwanzig Mann zu beschaffen sicherlich nicht einfach werden würde ohne die Unterstützung des Hofes. Pferde, um nur eines zu benennen.
»Ein Spaziergang in den Hof, derweil wir warten?«, schlug sie im Anschluss vor und griff erneut in das dichte Fell zwischen Rasvans Ohren. Nat nickte lediglich und folgte ihr die Treppen hinab. Sie nahmen nicht den Weg durch die Thronnische, sondern folgten der Stiege einfach bis hinab ins Erdgeschoss, um von dort direkt in den Eingangssaal und hinaus ins Freie zu gehen. Niemand hielt sie auf oder behelligte sie in irgendeiner Weise und so traten sie letztlich hinaus in die frostige Luft des fortgeschrittenen Nachmittags. Längst senkte sich die Sonne den Berggipfeln im Westen entgegen und es fehlte nicht mehr viel, bevor sich der frühe Abend über die Stadt legte – wenn es denn an einem trüben Tag wie diesem einen Unterschied machte.
»Lauf!«, befahl sie unvermittelt und warf die linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger vor. Bellend und freudig knurrend sprintete Rasvan aus dem Stand los und querte unter den irritiert zu ihnen gewandten Blicke der Wachen am Torhaus des Palastes in Windeseile den Hof, bis er in einer der Ecken Stellung bezog. Bellend tänzelte er auf der Stelle und provozierte ein gefälliges Schmunzeln seines Herrchens. Die Rechte auf Hüfthöhe neben sich haltend, als schwenkte sie einen großen Weinkelch, sammelte Amelia Mana in ihren Fingern, entzog mit diesem der umliegenden Luft noch mehr Wärme, dass sich um ihre Hand ein dichter, glitzernder Nebel bildete und verlieh der Energie in einer bläulich bis leicht violett schimmernden Wolke Kraft ihrer Gedanken die Form eines Balls. Simpel, wie der weiße, perfekt gepresste Schnee war, kostete es sie auch bei weitem nicht die Konzentration, die ihr die Blume abverlangt hatte, zumal sie ihn nicht zu Eis verdichten musste. Ohne Vorankündigung gab sie dem schwebenden Ball mit weiterer Magie einen kräftigen Schubs und das Geschoss flog pfeilschnell davon, entzog sich gänzlich dem Fokus ihrer Augen.
Blitzartig sprang der große Halbwolf aus dem Stand in die Höhe, katapultierte sich mit den mächtigen Hinterläufen vom Boden weg und schnappte den Schneeball aus der Luft, bevor er die Wand hinter ihm treffen konnte. »Guter Junge«, schmunzelte sie, mehr zu sich selbst, als zu den zwei Männern und der Frau, die neben ihr standen.
»Er hat seinen Biss gewiss nicht verloren, Herrin«, lobte Kolja dennoch und trat an den Rand des Weges, der durch den Hof führte. Arme vor der Brust verschränkt, halb unter seinem Mantel verborgen, blieb er stehen und betrachtete das hechelnd umhertänzelnde Tier, welches ob seines beinahe komplett weißen, nur stellenweise gräulichen Pelzes mit dem flockenbedeckten Boden verschmolz. »Sendet ihm noch einen, oder gleich zwei, dann wird Euch in Zukunft niemand hier behelligen, solange er an Eurer Seite steht«, fuhr er fort und deutete vor deren Blicken verborgen in die Richtung der verunsichert dreinblickenden Torwächter. »Verehrer wie Erikur eingeschlossen.« Ob eine Spitze von Ironie in seinem letzten Satz lag, wusste Amelia nicht recht zu bestimmen, aber sie entschloss sich, es so zu verstehen.
Offenkundig ahnten die Wachen, welches nicht-hündische Blut durch die Adern des Mischlings floss, und wussten um die tierische Urgewalt, die dieses zu entfalten vermochte. Sie trainiert und abgerichtet am Werk zu sehen mochte wohl durchaus Respekt – oder gar Furcht – abverlangen und schnell die Runde machen.
»Was meinst Du, Nat? Wohlwollen oder Furchtsamkeit?«
»Ein bisschen von Beidem, vielleicht?«, erwiderte er.
Sie stieß ein heiteres Schnauben aus und formte neuerliche Magie, diesmal in beiden Händen, und spürte wie die Anstrengung und Konzentration an ihren körperlichen Kräften zu zehren begannen, sich ihr Leib von innen erwärmte, als ertüchtigte sie sich gerade – und das obwohl kalte Nebelbänke ihre feinen, behandschuhten Finger umschwirrten. Kein unangenehmes oder auslaugendes Gefühl, aber eines, das sich dazu aufschwingen konnte, wenn sie nur lange genug fortführte, was sie gerade tat – auch wenn es bei dieser leichten Übung sehr lange dauern mochte.
Von der schwindenden Kälte in ihren Gliedern beflügelt, schmunzelte sie und sandte die Schneebälle zeitlich und in ihrer Flugbahn leicht versetzt in Rasvans Richtung. Den ersten schnappte er im Sprung aus der Luft, bevor er sich noch im Flug in seinem flexiblen Rückgrat wandte und mit den Hinterläufen von der nahen Wand abdrückte, um sich dem zweiten Geschoss entgegen zu katapultieren.
»Herzlichen Glückwunsch, Herrin, die Nord dieser Stadt werden Euch als Jungfer heimkehren lassen, ohne dass Ihr sie abweisen müsst«, scherzte Kolja diesmal offener.
»Das ist genug«, erwiderte sie ehrlich empört. Sie nahm es ihm nicht übel. Aber gewisse Grenzen der Etikette mussten bestehen bleiben und auch wenn Kolja sie von Kindesbeinen an als Soldaten und Leibwächter im Dienste ihrer Familie kannte, der sich in diversen Konflikten und Gefahrensituationen verdient gemacht hatte, so musste er diese ebenso wie alle anderen einhalten. Deutlich straffer und ergebener nickte er am Rande ihres Sichtfeldes.
»Unrecht hat er nicht.« Auch wenn sie Natalios nicht sah, hörte sie sein Schmunzeln.
Bevor sie auch ihm einen empörten Kommentar angedeihen lassen konnte, sprintete Rasvan plötzlich zu ihnen zurück. Allerdings ohne seine Pfoten freudig tänzelnd über den Schnee zu heben, sondern weitaus kraftvoller und bestimmter, als befände er sich auf der Jagd, pflügte er hindurch. Im Näherkommen erkannte Amelia auch die angelegten Ohren. Ihr Gesicht verlor binnen eines Herzschlages jede Entrüstung, jede Freude und spannte sich zu einer steinernen Maske an. Dann gelangte der Halbwolf auch schon neben ihr an und sie hörte das tiefe Knurren, welches seinen Leib unter ihrer schnell auf seinen Rücken gelegten Hand zum Vibrieren brachte.
»Was is-« Dann bemerkte sie, wie sich die Männer und Lida bereits umwandten, weil der Hund starr und mit gefletschten Zähnen an der Seite seines Herrchens in die Schatten unter dem säulengetragenen Vorbau des Haupthauses starrte. Geifer troff ihm von den Fangzähnen. Schließlich straffte sich auch die junge Adelige und machte auf der Stelle kehrt.
Eine dünne, kleine Gestalt stand dort im Halbdunkel, wo selbst an sonnigen Tagen kein Licht hingereicht hätte, hüllte sich in die schlichten, blauen Gewänder eines Magiers und versteckte sein Gesicht zu großen Teilen unter einer Kapuze. »Sch, ganz ruhig, Rasvan«, flüsterte Lia ihrem Gefährten zu und strich zwischen seinen Ohren entlang. Gleichsam spürte sie jedoch auch, wie die Anspannung ihres Vierbeiners beim Anblick der stillen und geräuschlos hinter sie getretenen Person auf sie selbst übersprang.
»Er ist nicht der einzige, der auf diese Weise reagiert«, schnitt die Stimme einer Frau unter der Kapuze hervor und ein schiefes, wenig freundliches Lächeln umspielte die schmalen, femininen Lippen, die zu sehen blieben und unter einer schlanken Nase saßen.
»Und Ihr seid?«, fragte Amelia vorschnell zurück, biss sich aber gleich im Anschluss verärgert auf die Zunge, um weitere Kommentare zurückzuhalten.
In diesem Moment schob sich Natalios an seiner Nichte vorbei und trat zwischen den unverändert knurrenden Hund, den wohl lediglich Amelias Hand und deren beruhigende Streichbewegungen davon abhielten, auf die schmale Frau loszugehen. »Sybille, wie ich sehe, scheinst Du Deine Angewohnheit, Normalsterbliche zu Tode zu erschrecken, nicht abgelegt zu haben.«